Der Tod in der Nuss

geschrieben von Susanne am 15. September 2021 um 23.23 Uhr
Kategorie: Ernährung, Märchen
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Wie die Geschichte „Wenn Haifische Menschen wären“ von Bertholt Brecht spiegelt auch folgendes Märchen mit dem Titel „Der Tod in der Nuss“ aktuelles Zeitgeschehen.

Unter unserer Sonne gibt es in allen Himmelsrichtungen Helden, die immer wiederkehren, über die viele Geschichten und Märchen erzählt werden. Ich meine aber jetzt nicht die grossen starken Helden mit Schwertern, sondern die Art von Held, die manchmal gewitzt und gerissen ist und dann wieder einfältig und dumm, die manchmal unwahrscheinliches Glück hat und dann wieder unaussprechliches Pech. In Norwegen heisst dieser Held für gewöhnlich Peer, in Russland Iwan, in Irland Paddy und bei uns der Hans oder Hansel. In England ist sein Name Jack. Fast alle anderen Geschichten, die Ihr über Jack hören werdet, haben hier ihren Anfang, denn ich werde heute erzählen, wie es überhaupt kam, dass er in die Welt hinausging, um etwas zu erleben.
 
Zu der Zeit lebte er also irgendwo in England ganz in der Nähe des Meeres mit seiner Mutter. Sie wohnten in einem kleinen Haus, eher einer Hütte, „Cottage“ heisst so was in jener Gegend. Die beiden stritten manchmal, doch im Grunde liebte Jack seine Mutter von Herzen. Die zwei ernährten sich mehr schlecht als recht von diesem und jenem, hatten einen  kleinen Garten, ein paar Hühner, und der Junge suchte oft Treibgut am Strand.

Eines Tages wurde Jacks Mutter krank und konnte nicht wieder aus dem Bett aufstehen. Da kochte Jack Suppe für sie, dann wusch er alle Wäsche, und schliesslich fegte er die ganze Hütte sauber. Dabei  liess er den Kopf tief hängen und seufzte manchmal. Die Zeit verging, doch ihre Krankheit verging nicht.

Eines Morgens wachte er auf, schaute auf seine Mutter, die bleich und müde im Bett lag. Sie atmete ganz flach, da wurde ihm selbst das Cottage zu eng und die Luft darin zu dünn. Er stürmte zur Tür hinaus ans Meer, lief den ganzen Strand entlang, kletterte über die Felsen, lief über den Tang, der dort lag, durch die nächste Bucht und kletterte über die nächsten Felsen.

Ein junger Mann ist kräftig und kann lange laufen. Doch ein junger Mann ist auch oft hungrig. Lange, lange Zeit rannte er so, bis schliesslich sein Magen lauter knurrte, als die Wellen rauschten. Es war schon fast Mittag, ehe Jack umkehrte und sich auf den Heimweg machte. Da sah er in der Sonne von weitem einen Fremden daherkommen. Er war hochgewachsen, schwarz gekleidet, hatte etwas über der Schulter, das glänzte im Sonnenlicht. Näher und näher kam der Mann. Was trug er da?

Der Mann, der näher kam, wurde grösser, aber nicht breiter, der war ja schrecklich dünn. Da sah Jack schliesslich verwundert, dass der Fremde über der Schulter etwas trug, was du am Strand nur selten siehst und eigentlich auch nicht brauchst, nämlich eine Sense. Das ist am Meer sehr ungewöhnlich. Als die Gestalt aber noch näher gekommen war, erkannte Jack endlich, wer es war: Schwarz gekleidet, Augen tief in den Höhlen, Sense über der Schulter! Da fragte der Kerl den jungen Mann nach dem Weg zum nächsten Cottage, denn er habe dort zu tun. Das einzige Haus weit und breit war aber das von Jack und seiner Mutter. Und das einzige, was dieser da dort zu tun hatte war nur eines.

Als er nun eins und eins zusammenzählte, da stürzte sich Jack auf den Fremden. Er war unaufhaltsam wie ein Felsen, der von einem Berg ins Meer rollt. Noch ehe der Tod ausweichen konnte, hatte er ihm die Sense entrissen und mit einer solchen Wucht über den Schädel geschlagen, dass es krachte. Dann prügelte er ihn mit viel Kraft und Wut kurz und klein. So klein, dass er am Ende nicht grösser war als die Hälfte seines Daumens. Jack kramte nun in seiner Hosentasche und fand eine Walnuss, die er vor kurzem aufgehoben hatte. Sie war noch nicht geknackt, denn Jack hatte gesehen, dass sie ein kleines Loch hatte. Da stopfte er den Tod hinein. Die Nuss verstopfte er mit einem kleinen Holzsplitter, den er aus der anderen Hosentasche nahm. Er nahm Anlauf, holte weit aus und warf die Nuss mitsamt Inhalt in hohem Bogen ins Meer hinaus. Dann drehte er sich um und ging heim.

Dort war seine Mutter zum ersten Mal seit langem wieder auf den Beinen. Der Sohn freute sich: „Lass uns feiern, dass es dir wieder besser geht!“ meinte er, Ich will ein Festessen kochen!“ Also ging er hin, fing das langsamste Huhn und schlug ihm mit seinem Beil den Kopf ab. Doch als Jack sich umdrehte, da lief ihm mit einem Mal das Huhn wieder um die Beine. Zuweilen kann es vorkommen, dass ein kopfloses Huhn noch ein paar Schritte geht. Aber dieses Federvieh lief immer weiter, und als es auch noch zu gackern anfing, starrte es Jack ganz verwundert an. Er fing es ein zweites Mal, gab diesmal besser Acht und merkte, dass sein scharfes Beil am Hals des Huhnes einfach abrutschte. Das Huhn gackerte laut. Beim dritten Versuch ging es ihm nicht besser, und der ziemlich verängstigte Vogel suchte schleunigst das Weite.

Jack schluckte, er ging zu seiner Mutter in die Stube und meinte: „Ich hole uns Eier aus dem Hühnerstall, damit machen wir uns ein Festmahl!“ Er suchte ein bisschen und fand ein halbes Dutzend schöne Hühnereier, noch warm. Als er wieder in der Stube war schlug er das erste auf. Nein, halt, er schlug es gar nicht auf, er versuchte es nur. Als er mit dem ersten Ei an den Rand der Pfanne kam, da machte es nur „klong“. So ging es ihm nun mit einem nach dem anderen. Jack vermochte kein Ei aufzuschlagen. Schliesslich ärgerte er sich sosehr, dass er das Ei in seiner Hand fest auf den harten Steinboden pfefferte, wo es herumhüpfte. Dann kletterte er aufs Dach und warf ein Ei nach dem anderen hinunter. Sie bohrten sich ein kleines Stück in die Erde und blieben ganz. Die Eier waren wie aus Stein.

Die Mutter sah dem Ganzen zu und dachte sich so ihren Teil. Ihr Hunger wuchs. „Wenn die Hühner Steine statt Eier legen, esse wir eben Suppe!“, meinte Jack schliesslich. Die Mutter schaute Jack ins Gesicht. Er aber ging in den Garten, um Karotten aus dem Boden zu ziehen. Doch es war wie verhext, sie steckten fest, als ob der Boden gefroren wäre, als ob sie einer festhielte unter der Erde. Jack war wirklich ein kräftiger Kerl, er zog und stemmte sich gegen den Boden, er zog mit aller Kraft. Es ging nicht. Auch keinen Kohlkopf konnte er abbrechen, alles war wie aus Stein. Mit gesenktem Blick ging Jack zurück in die Küche.

Ihre Mägen knurrten, das Huhn im Hof gackerte. „Dann esse wir eben eine Mehlsuppe.“ Aber als sie versuchten, ein Feuer anzuzünden, da wollte und wollte das Holz nicht brennen. War es feucht? Sie holten trockeneres. Auch das brannte nicht. Über all dem war der ganze Tag vergangen. Nun fingen sie auch noch an zu frieren, denn ohne Feuer war es kalt in der Hütte. Unheimlich  und dunkel kam es ihnen vor. Und wie sie da so im Dunklen sassen, begann Jacks Mutter etwas zu tun, was nur eine Mutter kann: Sie hörte ihm ganz genau zu, obwohl er nichts erzählte. Sie fragte nichts, sie hörte ihm nur zu. So gingen sie früh schlafen.

Am nächsten Tag aber war gar nichts anders. Die Äpfel hingen an den Bäumen wie festgenagelt, die Eier waren wie aus Stein, kein Holz wollte brennen. Jacks Mutter lauschte auf das, was er nicht sagte. Am übernächsten Tag war es genauso. Drei Tage sind eine kurze Zeit, doch ohne Essen, ohne Feuer sind sie lang. Und wenn einer ein solches Geheimnis mit sich trägt wie Jack, dann sind drei Tage eine Ewigkeit.

„Ich muss dir etwas beichten“, sagte er schliesslich zu seiner Mutter. Sie war nicht eben überrascht. Da erzählte er ihr die ganze Geschichte. „Jack, bist du ein Narr? Hast du denn nicht begriffen, dass jedem Menschen seine Stunde vorherbestimmt ist? Du hast mir meine Stunde geraubt. Ohne das Leben gibt es keinen Tod. Aber Jack, denk nach, es ist auch umgekehrt. Ohne den Tod gibt es kein Leben. Das Leid, das du in diese Welt gebracht hast, ist kaum zu ermessen.“

Und so war es. Die Menschen hungerten und froren. Die Kranken quälten sich. Der Tod kam nicht, um irgendeinen zu erlösen. Die, deren Zeit gekommen war, warteten vergeblich. Nun packte ihm seine Mutter das Bündel, mit dem er in die Welt ziehen konnte. Dann trug sie ihrem Sohn auf, die Welt wieder in Ordnung zu bringen. Lange umarmten sich die beiden, sie segnete ihn und sein Zeitliches und ging zurück ins Cottage, um sich auf ihr Ewiges zu freuen.

Jack aber lief zum Meer hinunter. Die Wellen kamen und gingen, während er das Ufer absuchte. Die Sonne stieg höher und höher in den Himmel. Dann sank sie wieder tiefer. Erst als das Abendrot den Himmel färbte, fand Jack die Nuss. Wirklich, sie hatte ein kleines Loch, das mit einem Holzsplitter verstopft war. Da öffnete er sie …  

 

Dieses Märchen stammt aus dem Buch Augenblick und Ohrenglück, einundzwanzig Märchen zum Vor- und Nachlesen gesammelt und bearbeitet von Frau Wolle. Vielen Dank an eine meiner Leserinnen für das Märchen und den Hinweis auf diese Seite: www.mutaborverlag. 🙏🏻

Meine Mahlzeiten:

  • 19.30 Uhr: 765 Gramm Melone „Galia“, 270 Gramm Trauben „Lavallée
  • 22.30 Uhr: 50 Gramm Blätter vom Löwenzahn, 240 Gramm Brombeeren, 550 Gramm dunkle Feigen, 320 Gramm Bananen „Cavendish“

PS: Mein Bewegungsprogramm besteht aus drei Yoga-Einheiten und einem einstündigen Spaziergang.

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Diese Seite wurde zuletzt am 16. September 2021 um 19.05 Uhr GMT geändert.